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Aus Anlass unseres Jubiläums „90 Jahre Heliand“ habe ich, Gertrud Singer,  mir einige Gedanken zu unserem Bundeskanon gemacht. Ich singe ihn gern und war immer stolz darauf, dass wir ein eigenes „Bundeslied“ haben. 
Unter dem Original in unserm Archiv steht: Worte: Ruth Schaumann, Weise: Silvester Hohmann – dem Heliandbund zugeeignet. Eine außergewöhnliche Widmung!

Ruth Schaumann (geb.1899 in Hamburg, gest.1975 in München) war in den 30er – 50er Jahren besonders unter Katholiken als Schriftstellerin, Lyrikerin und Bildhauerin sehr bekannt. Auch in Heliandbriefen 

finden sich Texte von ihr. Sie verlor in früher Jugend ihr Gehör. Protestantisch aufgewachsen konvertierte sie 1923 zur katholischen Kirche und heiratete 1924 den Schriftleiter der Zeitschrift „Hochland“. Die Familie lebte mit 5 Kindern in München.

Silvester Hohmann (geb.1904 in München, gest.1944 als Soldat in Frankreich) war schon als Jugendlicher in der bündischen Jugend (Quickborn)aktiv. Ab 1924 studierte er in München, 1925 gründete er eine Sing-und Spielschar, mit der er Fahrten durch Süddeutschland und Österreich unternahm.1926 gab er das Liederbuch „All mein Gedencken" heraus, das geistliche und weltliche Volkslieder enthält. Im Vorwort schreibt er: „Die Anregung zu diesem Büchlein kam aus Kreisen der weiblichen Jugend. ...Deshalb wurde bei der Liederauswahl auf die Mädchenart …Rücksicht genommen.“ 1927 war er Singmeister beim Quickborn auf Burg Rothenfels. Das Singen bei der Liturgie lag ihm besonders am Herzen: „Wir setzen unseren Stolz darein, unsere Gottesdienste, die Mittelpunkte unserer gemeinsamen Tage, auch mit schönen Liedern auszuschmücken.“ 

Beim Bundestag in Mallersdorf 1937 war Silvester Hohmann zum ersten Mal beim Heliand aktiv. Maria Schaeffler schrieb dazu: „Kifinger 14 HeliandKorrespondenz 1/17  Das Thema gewinnt Silvester Hohmann als Singmeister des Bundes.“ Im Heliandbrief 1937 (Bericht über Mallersdorf) ist ein Artikel von S.H. veröffentlicht „Unser Singen“, der deutlich macht, welch hohen Anspruch Hohmann an das Singen der Mädchen hatte. Er vermittelte nicht nur die Melodie, sondern sprach mit ihnen auch über Stil und Inhalt der Lieder. „All das, in teilweise lebhaftem Gespräch erarbeitete, ließ uns ahnen, welchen unerschöpflichen Reichtum wir an unseren deutschen Volksliedern besitzen, ließ uns erkennen, dass unsere Lieder es wert sind, wenn wir uns ernstlich damit beschäftigen.“ Natürlich klingt die Zeit (1937) durch! 1938 wurde im letzten vor dem Krieg erschienenen Heliandbrief zu einer „religiösen Tagung für Mädchen“ auf Burg Rothenfels eingeladen, bei der u.a. Stud.-Dir. Silvester Hohmann mitwirkte. Eigentlich sollte das wohl ein Bundestag des Heliand sein!

Im Heliandbrief „Sommer 1953“ berichtet Martha Sonntag über den „Bundestag des Schweigens“ 1942: „Unvergesslich bleibt Silvester Hohmann, der uns damals „Wir sind zusammen“ lehrte, und Kif sprach uns allen aus dem Herzen, als er Hohmann öffentlich bat, diesen Kanon unser Bundeslied nennen zu dürfen. Wie begeistert klang er danach auf, und die Einigkeit schlug nie echter und ehrlicher zusammen als in der Stunde der Gefahr!" Im Heliandbrief 4/54 heißt es: „S.H. hat die Weise dem Heliandbund zugeeignet. Der Kanon wurde sehr begeistert aufgenommen, weil er in Wort und Weise ein Zeichen unserer Gemeinschaft war.“ Im Bericht über den Bundestag 1946 in Fürstenried heißt es: „Als der Bundeskanon aus 1600 Kehlen erklang, fühlten wir, wieviel Kraft von einer Gemeinschaft ausgehen kann.“ Das ist wohl der Kern des Erfolgs dieses Liedes!

Der Liedtext klingt für uns heute merkwürdig, manche sagen auch, er sei zu „romantisch“. Aber ein näherer Blick darauf lohnt sich doch. Der Text ist durch die vier Aussagesätze „Wir sind…“ suggestiv und verpflichtend, es heißt nicht „Ich bin…“! Wichtiger als der Aussageinhalt ist der emotionale Gehalt mancher Worte, die starke Assoziationen auslösen können (Stern, Kerzen, Wipfel, vereint auf Erden).
Zur 1. Zeile: Die paradoxe Aussage „uns liebzuhaben wie Stern den Stern“ gab verschiedenen Mädchen Anregungen zur Interpretation. Z.B.: „Die Sterne ziehen ihre Bahn nach den Gesetzen, die ihnen von Gott gegeben sind. Der Bund soll dich nicht aus der Bahn werfen, sondern dir helfen, Deinen eigenen Weg zu finden…“durch die Gemeinschaft. „Uns lieb zu haben…“ klingt für uns heute kindlich und etwas fremd.
Zur 2. Zeile: „uns zu benennen“, d.h. beim Namen nennen, erkennen, wirklich begegnen…“ wie Kerzen brennen, sie brennen gern.“ Sie geben Licht und Wärme, dabei verzehren sie sich und geben sich hin.
Zur 3. Zeile: „Wir sind so viele…“, die Gemeinschaft mit vielen Gleichgesinnten, in Liebe verbunden, trägt die Hoffnung, die Welt zu verändern. Das heißt, der kleine, neue Kern treibt „Wipfel“, wird groß und kräftig.
Zur 4. Zeile: Unser Bundes-Ziel „Lebensgestaltung in Christus“ ist hier in lyrischer Form ausgedrückt als eine Art Fazit. „…vereint auf Erden selig zu werden in unserem Herrn.“ Das ist gleichzeitig Diesseits- und Jenseitshoffnung in Gemeinschaft.

Der Text von Ruth Schaumann entspricht sehr dem Denken und Fühlen der Jugendbewegung mit ihrer Begeisterung und den hohen Idealen. Es wäre interessant zu wissen, ob Ruth Schaumann den Heliand kannte oder ob S. Hohmann Ruth Schaumann kannte und wie er an den Text kam. Natürlich gibt es auch andere Möglichkeiten der Deutung, doch zentral ist „Wir“, die Gemeinschaft.

Die Melodie
Zur 1. Zeile: Aus der Tiefe des „Wir sind zusammen“ (Gemeinschaft) steigt die Melodie in mehreren Anläufen (Tonschritt nach unten) hoch zu „Stern dem Stern“; sie überwindet dabei in einem Schwung den großen Abstand von zwölf Tönen.
Zur 2. Zeile: Die Melodie geht in großen Schritten abwärts bis „geboren“, dann wieder aufwärts in kleinen Schritten zum Grundton c‘ (... wie Kerzen brennen...) und abwärts zum tiefen Grundton c. Nach dem ersten großen Aufschwung tritt hier eine Beruhigung ein.
Zur 3. Zeile: Die Melodie steigt zum höchsten Ton des Liedes bei „Wipfel triebe“ an, der „neue Kern“ umspielt den Grundton c'.
Zur 4. Zeile: „Wir sind gekommen“ liegt im oberen Grundtonbereich, dann geht es in fünf Schritten abwärts zum unteren c („selig zu werden...“), doch es folgt ein Dreiklang nach oben und die Melodie endet überraschend offen auf der Quinte.

Das Lied ist im 6/4 Takt komponiert, der ruhige Bewegung anzeigt. Jeder Takt hat zwei Schwerpunkte, auf dem 1. und 4. Viertel, das entspricht weitgehend dem Sprachrhythmus. Nur in Zeile 3 bei „zuliebe“ und in Zeile 4 bei „vereint auf Erden“ sind die Akzente verschoben, was eine besondere Betonung ergibt. Silvester Hohmann deutet durch seine Vertonung den Text von Ruth Schaumann aus und verstärkt seine Aussage. Die Melodie ist zunächst recht spröde und musikalisch anspruchsvoll, so dass der große Erfolg eigentlich erstaunlich ist. Der sehr große Tonumfang (13 Töne) macht das Singen nicht einfach. Besonders die Rückkehr vom Ende des Kanons zum Anfang bringt häufig Probleme - eine Septime abwärts zu finden fällt vielen schwer.

Aber Heliand-Mädchen hatten schon immer Freude am Singen und haben es geübt! Wenn sich der volle Klang des Kanons entwickelt, entsteht so etwas wie ein berauschendes Gemeinschaftsgefühl. Ich kann mich gut erinnern, dass ich mich als Heliand-Mädchen ganz der Faszination der Worte und dem himmelstürmenden Aufschwung der Melodie überlassen habe. Im Bundeskanon gipfelte für mich das Erlebnis „Heliand". Ich singe den Bundeskanon immer wieder gern, vor allem, wenn die Gruppe groß genug ist, und er gelingt! Es entsteht dann so etwas wie ein „Heliand-Feeling“, auch wenn die meisten von uns nicht mehr 17, sondern 70 sind! Eine junge Frau hat vor einigen Jahren mal gesagt: „Das ist ein merkwürdiges Lied, das Ihr da singt, aber es hat was!“ Ohne den Bundeskanon (und das Bundesgebet) würde mir im Heliand etwas Wesentliches fehlen.

Gertrud Singer